Mit einer unerträglichen und für Luceija sicherlich schrecklichen Art empfand der Italiener, der deutlich zu gefasst neben Hanna stand, noch immer eine Form der Nebensächlich- und Gleichgültigkeit. Wirkte falsch, aber eben nicht elend, wie er eigentlich hätte sein und reagieren sollen. Winseln, kriechen und um Vergebung bettelnd. Er war ein Lügner und bemühte sich nicht einmal, seine Lügen zu kaschieren. Die Bombe war explodiert, aber er hatte die Detonation noch gar nicht miterlebt.
Das Wirre war, dass die Sizilianerin so ruhig blieb und wenigstens Leif war klar, dass es die Ruhe vor dem Sturm war, den sie selbst nicht in der Lage war zu erfassen. Es war als habe sie die Kontrolle über sich, ihre Gedanken und ihr Handeln einer anderen Person gegeben - einfach so den Steuermann ihres Seins ausgetauscht, der nun übernahm. Der nicht einmal auf Leifs ehrliche, wenngleich stark verzögerte Antwort reagierte. Wenigstens nicht so deutlich, wie sie sich wünschte, dass sie es getan hätte. Das
"Ja.", brannte sich in ihren Brustkorb und schien zu zertrümmern, was dahinter war. Wie konnte er lächeln? Lachen? Mit ihr sprechen, sie lieben, mit ihr Leben und ihr diesen Ring vermachen, während er
das wusste? Während er diese Sache mit sich herumtrug? Als verschachtelte man ihre beider Leben immer mehr, bis sich unendlich dicke Wände um jede Aussage gebildet hatten, die man nicht durchdringen konnte. Der Gedanke daran, schon wieder alles auf einem Konstrukt voller Lügen erbaut zu haben, ließ sie nicht los. Aber noch weniger ließ sie die rasende, brennende, verzehrende, furchtbare Wut in ihrem Inneren los.
"Deswegen die Auseinandersetzungen mit deinem Bruder."
Yonaka - Ordinary (Musik im Spoiler)
Tell me, is it worth it?
I'm far from, I'm far from perfect
Ein Zahnrädchen klickte ins andere. Ein Bauteil ins nächste und die Maschine, die ihr Hirn war, erhielt einen neuen Schub. Eine neue Erkenntnis, während der lodernde Feuerball in ihrem Inneren, der den Schlund unter ihren Füßen aufriss wie eine alles vernichtende Naturkatastrophe, erhielt neue Nahrung.
Sie war in der Lage, eine Sache ganz besonders einzuordnen und die übersprang selbst die Wut über Leifs Lüge für den Moment. Schob sie beiseite, als wäre sie nun zweitrangig, die Wut nicht wert, die sich in meterhohen Flammen um sie herum aufbaute. Denn ihr wurde klar, unangenehm klar, dass das Gefühl des Betrugs, das Gefühl des Verrats, das Gefühl der Verachtung nur einer einzigen Person zuzuordnen war.
But I picked myself up and got out the circus
I picked myself up and got out the circus
Mit derselben physischen Reaktion drehte sie sich von Leif ab. Erst der Kopf, der durch sich taktisch senkende Augenlider ihre Zielführung und Wut zum Ausdruck brachte und sich über ihre Schulter positionierte. Suchte. Bis der Rest ihres Körpers nachkam. Der Weg war frei, als biete der Saal selbst eine Bühne für jemanden die sich fühlte, als müsse sie in den Ring steigen. Keine Zweifel mehr hatte, dass etwas in der Wut verbrannt war, dass etwas zerstört war - denn sie kannte dieses Gefühl nur zu gut.
“Bevor..”. Sie hörte es nicht mal. Wie auch. Luci war noch weit entfernt. Und Vigilio schien keinerlei Interesse daran zu haben, dieses Gefecht - dass er für ebenso unnötig befand wie Luci es unnötig fand, sich nun mit der Wut auf Leif zu befassen - hier auf einer Tanzfläche auszutragen. Noch weniger in einem Club generell. Er beeilte sich nicht, warum sollte er auch? Es war passender, sicherer, angenehmer, einfach zu dieser Sitzecke zu gehen, sich sogar noch einmal viel zu charmant bei einer deutlich zu nahen Hanna zu entschuldigen bevor er es tat. Genau in die Ecke, die sie sich mit ihren Jacken reserviert hatten, um sich ganz locker das Jackett über zu werfen und im Anschluss wie ein unbescholtener Mann rauchen zu gehen.
Für Luci sah es aus, als wolle er fliehen. Fliehen, weil er die Wahrheit kannte. Weil er wusste, dass das hier kommen musste, richtig?
Ein Gefühl, dass ihm fremd war, überkam ihn. Wie ein Kitzeln in seinen Knochen. Wie eine böse Vorahnung. Wie…Schuld.
Does it make you nervous? (Does it make you nervous?)
These feelings, these feelings have surfaced
“Dove stai andando? Wo willst du hin?!”
Beide Hände an seinem Revers. Ein leichter Zug daran und der Stoff erschien so glatt wie immer. Keine Falten. Nichts, was auffiel. Nichts, was unangenehm auffiel. Außer sie. Immer…sie.
“Fumare. Rauchen.”, antwortete er. Eine Hand mit der Schachtel Zigaretten hob sich bedächtig an. Er blieb ruhig und es trieb Luci in noch fürchterlichere Wut. Sie sah nur seinen Rücken und trotzdem wirkte er so gänzlich entspannt in dem was er tat. Gelassen. Als fiele ihm all das so unendlich leicht.
“Oh, no. No. Certamente no. Oh, nein. Nein. Sicher nicht.”, spuckte sie hervor. Sie zeigte ein spöttisches Lachen, dass nicht zu ihrer Gemütslage passte. Sie wollte schreien.
“Ora vado a fumare, Luci. Abbiamo bevuto un buon drink, è tardi. Non ho il coraggio di sopportare uno dei tuoi sfoghi in questo momento. Quindi esci con me o resta qui, non mi interessa. Ich geh’ jetzt rauchen, Luci. Wir haben ordentlich getrunken, es ist spät. Ich hab’ jetzt keine Nerven für einen deiner Ausbrüche. Also komm mit raus oder bleib hier, es ist mir egal.” Ein Seufzen in seiner Stimme, dass fast schon Bedauern ausdrücken wollte. Bedauern darüber, dass sie war, wie sie war. Dass sie nicht war, wie er war. Denn darum ging es doch, oder..?
Tell me, who wants to be broken on purpose?
Was genau sie wütender machte, konnte selbst Luci nicht einordnen: Die Art wie er sie abwehrte und für verrückt erklärte und sie selbst in seiner Stimme heraushören konnte, dass sie nicht einfach ausgeblendet hatte, was die ganze Zeit um sie herum passierte - sondern er sie bewusst ausgeschlossen hatte.
Oder die Tatsache, dass sie sich einmal mehr in einer Situation wiederfand, die sie glaubte, schon einmal erlebt zu haben. Die, in der sie nichts anderes wollte, als dass Leif ihr zuhörte. Dass sie über etwas sprachen, worüber sie nicht sprechen konnten und er nichts anderes wollte als gehen. Es war dasselbe. Man streifte sie ab, sobald es unangenehm wurde und ihr Bruder, ihr eigener, verdammter Bruder, sah ihr nicht einmal in die Augen, während er sie verarschte wie alle anderen es taten.
Luci blieb nichts anderes mehr übrig: Der Autopilot hatte übernommen und ihre Rationalität hatte es sich im Hintergrund gemütlich gemacht. Ihre Augen trafen sich kurz, als Vigilio den Kopf zur ihr drehte und bekam einen kurzen Einblick der Leere, die er in ihren hinterlassen hatte. Sie hatte ihm vertraut. Sie hatte. Ihm. Vertraut.
Bevor er sich wieder umdrehen konnte, war da ein schneller, aber deutlicher Schlag ihrer flachen Hand gegen seinen Wangenknochen. Es reichte, dass sich sein Gesicht mit der Wucht nach vorne zurückdrehte und ihn völlig überrumpelt ließ. Schutzlos. So, wie sie sich fühlte, die ihn nicht mehr vom Haken lassen würde. Nicht, wie er es mit Beyo gemacht hatte.
“NON AVETE IL DIRITTO DI ANDARVENE ORA, CAZZO! DU HAST KEIN VERDAMMTES RECHT DAZU JETZT ABZUHAUEN!”, schrie sie ihn an und erregte Aufmerksamkeit, die ihr egal war. Der ganze Club fühlte sich ohnehin einengend an. So eng, dass es ihr die Luft zum Atmen nehmen wollte. Der heftige, ziehende Schmerz der durch Gils linke Gesichtshälfte kroch und ihn stöhnen ließ, war nichts im Vergleich zu dem, der folgte, als er sich empört und selbst mit aufbauender Wut zu ihr umdrehte - ENDLICH zu ihr umdrehte, und den direkt danach den Tritt zwischen seine Beine spürte. Wie bei einem verdammten Not-Aus-Knopf setzten seine Systeme aus und machten ihn kurzzeitig blind, während sich der blitzartige Schmerz bis ins Hirn und wieder herunter ins Rückgrat bohrte. Er fluchte und Luci fand, dass er dazu kein Recht hatte. Wieder taumelte er zurück, gegen den Stuhl, den er mit sich zur Seite riss und neben dem Tisch auf den Boden taumelte. Eine Hand hielt sich noch an der Tischplatte, quietschte aber, als er immer mehr den Halt verlor.
Luftarm hielt er eine Hand vor sich, als er es tat.
“Luci, fermati! FERMATI! Luci, halt! HÖR AUF!”. Man hätte Mitleid haben können, aber wozu? Er hatte keines mit ihr. Hatte er nie, war es nicht so? Die Sizilianerin hatte das Gefühl einen Fremden vor sich zu haben, auf den sie losging. Buchstäblich los ging. Voller Wut, die die Härchen an ihren Armen aufstellte und sie in eine definitionslose Aura hüllte, die man knistern hören wollte.
“MI HAI TRADITO! DU HAST MICH VERRATEN!”, schrie sie ihn an.
“MI HAI MENTITO OGNI MALEDETTO GIORNO, NON C'È MOTIVO PER CUI DOVREI SMETTERE!!! DU HAST MICH ANGELOGEN, JEDEN VERDAMMTEN TAG, ES GIBT KEINEN GRUND WARUM ICH AUFHÖREN SOLLTE!!!”.
Luci nahm es selbst nicht einmal mehr wahr, wie sie ihn angriff. Wie diese verdammte, schwächliche Biotik nicht den Anstand besaß, ihr jetzt die Stärke zu geben, die sie brauchte, während sie auf ihren eigenen Bruder einschlug und er nichts tat, als Schläge abzuwehren, aber so naiv war und nicht einmal zurück schlug.
“ALMENO REAGIRE! WEHR DICH WENIGSTENS!”, forderte sie ihn heraus.
“ALMENO REAGISCI A QUALCOSA, FOTTUTO TRADITORE!!! WEHR DICH WENIGSTENS GEGEN IRGENDWAS DU VERDAMMTER VERRÄTER!!!” Ihr Körper schwebte über seinem, nutzte die Schwäche aus, die ihn aus den Schuhen geknockt hatte, schlug zu wie ein Tier, dass angreifen musste, damit es nicht selbst starb. Wie in einem Todeskampf. Vielleicht war es das? In ihr lief all das wieder ab: All der Schmerz, als die Verluste, all die Versprechen und die Verzweiflung. Die Gefühle von Betrug und Verachtung, die fehlende Wertschätzung für alles, was sie getan hatte. Sie war eine tickende Zeitbombe, die endlich detoniert war und genau er war das Opfer. Es gab keine Verluste mehr. Alles was blieb war das. Wut.
Gil schlug nicht zurück, aber hielt ihre Arme fest, wehrte sich dagegen, wie sie sich wehrte.
“SEI COMPLETAMENTE PAZZO! DU SPINNST DOCH VÖLLIG!”, retournierte er und auch das war ein Fehler.
“CERTO CHE NON CAPISCI, NON HAI LA MINIMA IDEA DI COME FUNZIONA LA POLITICA!!! NATÜRLICH VERSTEHST DU DAS NICHT, DU HAST AUCH KEINE VERDAMMTE AHNUNG WIE POLITIK FUNKTIONIERT!!”
“NON SONO UN POLITICO DEL CAZZO! ICH - BIN KEINE - SCHEISS - POLITIK!"
Tell me, who wants to be broken on purpose?!
Erinnerte Leif das hier an etwas? An diese völlig unkontrollierte, reine, zügellose Wut, die sie auch ihm gegenüber schon geäußert hatte? Sie war wie eine Maschine, die alles daran setzen würde zu töten, wenn der Wunsch oder der Befehl eben dieser war.